Politischer Streit zulasten der Patientinnen und Patienten – Marktrücknahme des Krebsmedikamentes Amivantamab
Janssen-Cilag hat am 25. August 2022 bekanntgegeben, das Krebsmedikament Amivantamab (Rybrevant®) vom deutschen Markt zu nehmen. Amivantamab ist zugelassen zur Behandlung von Patientinnen und Patienten mit fortgeschrittenem, nichtkleinzelligem Lungenkarzinom (non small cell lung cancer, NSCLC) und aktivierenden Exon 20-Insertionsmutation des epidermalen Wachstumsfaktor-Rezeptors (EGFR) nach Versagen einer platinbasierten Therapie. Im Rahmen der frühen Nutzenbewertung neuer Arzneimittel durch das sogenannte AMNOG-Verfahren hatte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) am 7. Juli 2022 die Festlegung „Zusatznutzen nicht belegt“ getroffen. Aus Sicht von Janssen-Cilag besteht aufgrund dieser Ausgangslage keine Möglichkeit, Amivantamab weiterhin in Deutschland zur Verfügung zu stellen.
„Bei mehr als 60.000 Neudiagnosen Lungenkrebs im Jahr betrifft die Marktrücknahme zwar nur wenige hundert Patientinnen und Patienten, aber diese besonders hart. Die Exon 20-Insertionsmutation ist prognostisch ungünstig, weil andere Medikamente und Chemotherapien nicht ausreichend wirksam sind“, so Prof. Dr. med. Torsten Bauer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin.
Amivantamab ist ein wirksames und sicheres Arzneimittel. Die Entscheidung zur Einreichung der Zulassung war auf Basis der positiven Ergebnisse der initialen Phase-I-Studie getroffen worden. Amivantamab wurde im Dezember 2021 für die Europäische Union (EU) sowie für Deutschland zugelassen und wird seitdem eingesetzt. Der bei Markteinführung von Janssen-Cilag aufgerufene Preis liegt bei etwa 135.000 Euro pro Jahr. Die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO), die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) und die Arbeitsgemeinschaft Internistische Onkologie (AIO) der Deutschen Krebsgesellschaft hatten sich im aktuellen Verfahren für die Festlegung eines Zusatznutzens ausgesprochen.
Da die Zulassung nur aufgrund einer nicht-randomisierten Studie erfolgt war, bezog sich der Vergleich im Verfahren der frühen Nutzenbewertung auf Daten aus zwei deutschen Lungenkrebs-Registern (CRISP und nNGM). Dabei zeigte sich im indirekten Vergleich fast eine Verdoppelung der medianen Überlebenszeit. Dieser Registervergleich war vom G-BA nicht als valide anerkannt worden. Die zentrale Datenbank des nNGM mit molekularen und klinischen Daten von über 20.000 Patientinnen und Patienten ist eine der größten ihrer Art weltweit. „Es ist unverständlich, dass die hohe und anerkannte Qualität dieses Registers in Deutschland nicht anerkannt wird“, so Prof. Dr. Jürgen Wolf, Sprecher des nationalen Netzwerks Genomische Medizin.
Das reguläre Verfahren der frühen Nutzenbewertung sieht vor, dass pharmazeutisches Unternehmen und Krankenkassen auf Basis der Festlegung des G-BA in Preisverhandlungen treten und bei Dissens auch ein Schiedsgericht anrufen können. Das ist nicht geschehen, Janssen-Cilag entschied sich nach den ersten Gesprächen für den Opt-Out.
Prof. Dr. med. Anke Reinacher-Schick, Vorstandsvorsitzende der AIO, kommentiert: „Es ist weder für Patienten noch Behandler akzeptabel, dass durch kassenfinanzierte Diagnostik diese seltene Mutation gefunden wird, für die es ein wirksames und zugelassenes Medikament gibt, welches dann nicht in Deutschland verfügbar ist”.
Die aktuelle Lage ist für Patientinnen und Patienten und für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte sehr belastend. Durch die kurzfristige Entscheidung von Janssen-Cilag bestand keine Reaktionsmöglichkeit. Damit muss Amivantamab (Rybrevant®) zur Fortsetzung einer bereits begonnenen Therapie oder zur Einleitung einer neuen Behandlung jetzt aus dem Ausland importiert werden. Patientinnen und Patienten werden durch solche, nicht medizinisch begründeten Entscheidungen verunsichert. Dazu kommt, dass der Import aus dem Ausland eine besondere ärztliche Verantwortung und einen hohen administrativen Aufwand mit sich bringt. Das kann die Verordnung verzögern.
Die wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften haben das AMNOG-Verfahren der frühen Nutzenbewertung als Grundlage von Preisverhandlungen zwischen pharmazeutischen Unternehmen und Krankenkassen seit 2011 aktiv unterstützt. Es ermöglicht, die Preise von Krebsmedikamenten in Deutschland auf einer wissenschaftlichen Grundlage festzulegen. Die Mehrzahl der Entscheidungen zu Krebsmedikamenten ist im Einklang mit Therapieempfehlungen und Leitlinien der Fachgesellschaften getroffen worden. Das AMNOG-Verfahren schafft somit die Basis für den Zugang der Krebspatientinnen und -patienten zu neuen, wirksamen Arzneimitteln. Marktrücknahmen wie bei Regorafenib (Stivarga®) sind erfreulich selten oder werden wie bei Osimertinib (Tagrisso®) sogar rückgängig gemacht.
Eine einseitige Schuldzuweisung ist in der jetzigen Situation nicht angebracht. Der Vergleich der Daten aus der Zulassungsstudie mit Registerdaten ist kein Ersatz für randomisierte Studien. Dennoch hat ein solcher Vergleich mit Daten wissenschaftlich anerkannter Register aus dem deutschen Versorgungskontext für uns einen hohen Stellenwert. Er sollte im Verfahren der frühen Nutzenbewertung berücksichtigt werden.
„Legitime monetäre Interessen der pharmazeutischen Unternehmen entbinden diese aber nicht von ihrer sozialen und gesundheitspolitischen Verantwortung“, betont Prof. Dr. med. Hermann Einsele, Geschäftsführender Vorsitzender der DGHO und Direktor der Medizinischen Klinik II des Universitätsklinikums Würzburg. Eine so kurzfristige Marktrücknahme ist laut Einsele inhaltlich schwer nachvollziehbar.
Eine Lösungsmöglichkeit für den zukünftigen Umgang mit neuen Arzneimitteln bei so seltenen Erkrankungen wie dem NSCLC mit EGFR-Exon20ins-Mutationen liegt in der formalen Zuerkennung eines Orphan Drug Status. Klinisch, biologisch und therapeutisch unterscheiden sich diese treiberalterierten Lungenkarzinome fundamental von den klassischen tabakinduzierten Lungenkarzinomen. Eine solche Änderung würde bei zukünftigen AMNOG-Verfahren eine Entscheidung im Sinne der Patientinnen und Patienten erleichtern.
Möglicherweise lässt sich das Vorgehen auch vor dem Hintergrund der Diskussion über den Entwurf für ein GKV-Finanzstabilisierungsgesetz aus dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) erklären. Die vorgeschlagenen, neuen Regelungen sehen unter anderem Preisabschläge bei neuen Arzneimitteln vor. Das führt aktuell zu spürbarer Verunsicherung sowohl bei Leistungserbringern als auch bei pharmazeutischen Unternehmen.
DGHO, DGP, AIO, CRISP, nNGM und zielgenau e.V. fordern alle Beteiligten auf, das Vertrauen der Betroffenen in die Verlässlichkeit der Versorgung mit neuen Arzneimitteln in Deutschland nicht durch inhaltlich nicht nachvollziehbare Entscheidungen, kurzfristige Marktrücknahmen oder überzogene Forderungen zu gefährden. Das Patientenwohl muss weiterhin das zentrale Anliegen bleiben und darf nicht gefährdet werden.
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